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Kunstprojekt Unart: Zwischen Kunst und Therapie

Zwischen Kunst und Therapie

Im Bereich von Medizin und Psychotherapie finden wir eine Reihe von Theorien zur Entwicklung von Kreativität in einem umfassenden und elementaren Sinn. Besonders WINNICOTT (1973) bietet uns mit seinem aus der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern entwickelten Konzept des „Übergangsobjektes“ bzw. des „Übergangsphänomen“ einen hypothetischen Einblick in einen Akt frühester Kreativität. Nach WINNICOTT wird das anfängliche Omnipotenzgefühl des Säuglings durch die Erfahrung mütterlicher Abwesenheit gestört. Mit dem „Übergangsobjekt“ (beispielsweise einem Teddybär) schafft sich der Säugling einen Tröster. Dieser gehört zwar zur Außenwelt, bedeutet für den Säugling jedoch die in der Symbiose von ihm illusionär erschaffene Mutter. EGGERS (1984) betont die Wichtigkeit einer Kontinuität dieser emotionalen und kognitiven Erfahrung für den Säugling und verweist damit auf das „Zuhandensein“ (HEIDEGGER 1927) dieses Übergangsobjektes. Für HEIDEGGER ist das „Zuhandensein“ eines Konstituens der Realitätsbeziehung des Menschen schlechthin. Das ‚Zuhandene’ des Umgangs mit dem Übergangsobjekt hat immer auch den Charakter der Nähe. Es vermittelt die Näher der abwesenden Mutter und damit Sicherheit und Geborgenheit.“ (EGGERS, 1984)

Nach Erlangen der Befähigung zur illusionär-kreativen Imagination des „guten Objektes“ kann und muss für das Kleinkind der Prozess der Desillusionierung erfolgen. Zwischen subjektiv Vorgestelltem und objektiv Wahrnehmbarem bildet sich nun der „intermediäre Bereich“ als eine Art „Übergangsphänomen“.
Damit wird der Grundstock gelegt zu Imagination und Spiel, zur Selbstwahrnehmung und Bildung von Symbol und Sprache, zur Entwicklung einer stabilen inneren Realität und, „eines wahren und stabilen Selbst“. (WINNICOTT 1973)

Ein Jugendlicher war bei seiner stationären Aufnahme bereits seit 51/2 Jahren an einer chronifizierten Psychose erkrankt. Wegen einer ausgeprägten Hemmung jeglichen Antriebs und des völligen sprachlichen Verstummens war für ihn in lebenspraktischer Hinsicht pflegerische Hilfe unabdingbar geworden.

In wenig verändertem Zustand strich er nach einigen Wochen auf der Station ein Blatt Papier mit roter Farbe zu, worauf wir uns entschlossen, ihn zur Kunstgruppe mitzunehmen. Dort verfertigte er zunächst monochrome Kohlezeichnungen, wobei er mit verschiedenen Schraffuren wiederum das ganze Blatt ausfüllte. Der variierte Auftrag ermöglichte dem Betrachter jedoch einige Assoziationen, beispielsweise Aufsicht auf eine Landschaft, etc. Nach 4 Nachmittagen gab er seine Kohlezeichnungen auf und ließ sich, angeregt durch eine Klinikmitarbeiterin, darauf ein, eine Farbe langsam über eine ganze Fläche Papier auf dem Boden zu verteilen. Später bildeten ähnlich große Farbflächen dann den Hintergrund für gegenständliche Darstellungen, beispielsweise von einem riesigen Hund und einem roten Schiff auf blauen Grund. Dabei konnte er seine Bilder zunächst nur in Gegenwart oder in gemeinsamer Arbeit mit seiner Bezugsperson aus der Klinik malen. Bei ihrer Abwesenheit bleibt er wieder wie versteinert stehen und verneinte die Vorschläge anderer Personen. Später widersetzte er sich jedoch ihrer Mitarbeit und malte unabhängig von ihrer Anwesenheit. Gleichzeitig begann er einzelne Worte zu sprechen und nahm von anderen Gruppenmitgliedern Kaffee und Kuchen entgegen. Nach einigen Monaten verweigerte er die Produktion schöner Bilder und verfolgte stattdessen interessiert mit dem Kofferradio unter dem Arm das weitere Geschehen in der Gruppe.

Die Teilnahme an dem Kunstprojekt schien dabei eine Art Auslöser für eine ähnliche Zunahme an Selbständigkeit auf der Station zu sein. Uns imponierte die hinter einer extremen Kargheit an Kommunikationsfähigkeit unvermutet reiche Gedanken- und Gefühlswelt des Jugendlichen, die er uns scheinbar nur über das malen mitteilen konnte. Das gemalte Bild entstand dabei wie eine Art „Übergangsobjekt“ zwischen Patient und Bezugsperson. Auf seinen Bildern tauchte das oben erwähnte Motiv eines Hundes auf, der als Stofftier zum Einschlafen benötigte. Zuletzt erfolgte eine Verwandlung des Übergangsobjektes „Bild“ in ein Kofferradio, damit in eine alterstypisches Requisit.

Das unerwartete Auftreten intensiver bildnerischer Betätigung können wir bei psychotischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen häufig beobachten. Aus medizinischer Sicht bieten sich zwei Interpretationsmöglichkeiten an.

Zum einen kann die „Bildnerei“ (PRINZHORN 1922) als notwendiger Ausdrucksversuch und bildhafte Konkretisierung quälender und drängender innerer Erlebnisse angesehen werden. Dabei unterliegt der bildnerische Akteur in der Psychose nach BENEDETTI (1987) einem absoluten Zwang.
Die Symbole sind dann nicht mehr Chiffren, die dem Menschen die Freiheit lassen, sich dazu zu verhalten und subjektiv Stellung zu beziehen, sondern sie werden zu einer konkreten, asymbolischen Realität. Jede Wahl der Auslegung, der Freiheit zur Stellungnahme gegenüber den Chiffren und damit der Symbolisierungsfähigkeit wird unmöglich. BENEDETTI sieht in diesem Verlust der Subjektkompetenz und Subjektidentität eine absolute Grenzsituation menschlicher Existenz, in der sich ein Abgrund von der Kehrseite persönlicher und gesellschaftlicher Zustände auftut. Ein Vergleich dieser Grenzsituation mit einem „existenziellen Ausbruch“, wie es SCHNEEDE (1984) für die bildende Kunst proklamiert, liegt nahe. SCHNEEDE sieht beispielsweise in der Kunst Edward MUNCH´s einen existenziellen Ausbruch gegenüber einem kollektivem Verlangen nach Sicherheit in der Gesellschaft. Psychiatrischerseits erfolgt die Trennung zwischen „Bildnerei“ und „Kunst“ durch den Verweis auf die Entscheidungsfreiheit und Fähigkeit des Künstlers, der sich als Subjekt verstehen muss. Dem folgt die Kunst nur bedingt, wenn sie z.B. Adolf WOELFLI´s besessene Produktionen als „Hang zum Gesamtkunstwerk“ anerkennt (SZEEMANN 1983).