Bereits 1952 verweist die vor kurzem verstorbene Pionierin der deutschen Kinderpsychotherapie Frau Annemarie SÄNGER auf die Wichtigkeit von Spiel und bildnerischen Äußerungen für die menschliche Entwicklung und Nachreifung hin. Sie schreibt:
„Spielen hat immer mit inneren Bildern zu tun, ohne Fantasie, ohne Vorstellungskraft kann nicht gespielt werden…. Sein eigentliches, sein wesentliches Sein spricht der Mensch in Bildern und Gestaltungen aus. So wie wir uns unwillkürlich in Bildern aussprechen, so muss naturgemäß auch das Bild uns wieder ansprechen. Es reflektiert, es wirkt zurück. Das ist die eigentliche Wirklichkeit des Bildes, das es wirkt.“ (siehe RUNGE-BEUYS) „Nur soweit die Bilder unser Gemüt in Bewegung bringen, haben sie Wirkung. Hier wird die Koppelung der Vorstellungskräfte und der Gemütskräfte sichtbar. In der Therapie geht es um die Belebung und Entwicklung der Gemütskräfte und der Phantasie. Gemütskräfte, d. h. Gefühl und Bildkräfte sind aufs engste miteinander verbunden und bedingen einander. Sie müssen die Triebkräfte einerseits, Vernunft und Willen andererseits durchtränken, damit sie menschlicher werden.“
Analog formuliert BEUYS (zit. in VISCHER 1986), wenn er den Unterschied von Anschauung und Begriff betont und auf der Notwendigkeit des Bildes beharrt:
„Wenn nur Begriffe einen Wert hätten, dann bräuchte man überhaupt keine Farben, keine Bilder, keine Zeichnungen, keine Imaginationen, Skulpturen, Klänge, Musik, Tanz, Theater, nichts! Alles könnte sich rein wissenschaftlich durch Begriffe verbalisieren. Begriffe sind Strukturen, die auch wichtig sind. Aber wenn sie einseitig auftreten, sind sie natürlich der absolute Tod jedes kulturellen Lebens, .... Die Begriffe werden nach einem halben Jahr absolute Leichen sein, wenn sie nicht ernährt werden durch die Imagination….“
Als Vorbedingung für das Spielen sieht Annemarie SÄNGER die Gewinnung eines Vertrauten an. Danach gewinnt das Kind erst auf dieser Basis das nötige Selbstvertrauen, um aggressive Impulse freisetzen und sich frei spielen zu können. „Der ganze Prozess kann nun autonom verlaufen, wenn es geglückt ist, Phantasie und Emotionalität zu lockern und zu steigern.“
Wir finden hier die erstaunlich aktuelle Parallele zu LYOTARD`s Vorstellung von Therapie. Nach LYOTARD besteht diese in der Ermöglichung und Steigerung der noch durch keinen Sekundärvorgang (z.B. sprachliche Ordnung) gebundenen Gefühle. Nach Annemarie SÄNGER ist das dadurch ermöglichte Spiel „ dem Menschen unabwendbare Formung seiner selbst und ist Mit-Teilung“. „Das reine Spielen des Kindes ohne therapeutische Deutung kann unter bestimmten Voraussetzungen das volle Äquivalent der Analyse beim Erwachsenen sein.“
Nach Peter RECH (1984) muss das Geräusch des Sprechens in der Therapie nicht unbedingt Sprache werden. Genau dies ermöglicht die Kunst. Als Beispiele aus dem Bereich der Kunst seien hier nur die Ursonate von Kurt SCHWITTERS und eine Aktion von BEUYS während einer Immatrikulationsfeier 1967 erwähnt (VERSPOHL 1984). BEUYS versucht dabei bildhaft (z.B. Pfeifen anstelle von Sprechen, Axt als Requisit) u. a. daran zu erinnern, dass Sprache ein Spaltungsprozess der Laute sein kann.
Auf die therapeutische Bedeutung unseres Projektes bezogen fassen wir zusammen: Aufgrund der vieldeutigen und vielwertigen Zeichen, d.h. der präsentativen Symbolik künstlerischer Arbeit, können z. B. psychotisch erkrankte Kinder und Jugendliche eine noch unbestimmte Bildung von „Sprache“ und „Dialog“ wagen und damit aus ihrer autistischen Abkapselung herausfinden. Die oft scheinbar unwiderrufliche Geschlossenheit des Symptoms wird porös. In einzelnen Beziehungen (Vertraute) innerhalb der Kunstgruppe wird es dem Patienten gestattet, auf seine eigene Weise „verrückt“ zu sein und in eine gemeinsame phantasmatische Kommunikation (BENEDETTI 1984) einzutreten. Dies bedeutet ein erster Schritt zu Imagination, Spiel, Symbolbildung und Selbstwahrnehmung und damit zur Entwicklung einer stabilen inneren Realität, zur Sprache und zum Dialog (WINNICOTT).
In der Gruppe bildet sich spontan jeweils rasch ein spezifischer Sprach- und Interaktionsraum aus, wobei die auf Erkrankung fixierte therapeutische Beziehung wegfällt, was paradoxerweise therapeutisch wirken kann.
Die Ablösung eines pathologischen Zusammenhangs kann ohne die Notwendigkeit des Mediums Sprache über die bildnerische Arbeit durch den Patienten selber erfolgen.
Durch „lebendige Form“ gelangt die „Expressivität der Welt“ (RICOEUR 1974) zur Sprache, zum Ausdruck, zum Erleben (Döser).
Paul Schwer
(Literatur beim Verfasser)